Wir sind mehr - Eindrücke und Gedanken

Ich war einer von sehr vielen gestern in Chemnitz. Dazu ein paar Kommentare:

Wer auch immer das Plakat mit der Aufschrift "Die Würde des Menschen ist antastbar Artikel 1 (1) Grundgesetz Stand: 27. August" bezahlt hat, dem gebührt Dank. Dringlichkeit im Anliegen und die fröhliche Gelassenheit in der Form des Protestes passten gut zusammen. 

  • Emotional war das ein großer Abend zum genau richtigen Zeitpunkt. Dass wir mehr sind, ist wichtig, dass so viele friedlich zusammen kommen können umso wichtiger.

  • Aber wie dieses aufflackernde Engagement in den Alltag hinüberzutragen ist, bleibt noch nebulös. Scheinbar hat auch keiner einer so richtige Idee.

  • Wir sind also auf uns selbst zurückgeworfen: wir selber müssen aktiver werden. Immerhin: Campino ist schon (wieder) da und macht den Anfang.

Titel: Großes Kopfkino © Florian Kiel

Titel: Großes Kopfkino © Florian Kiel

Titel: Was ist Politik? © Florian Kiel

Titel: Was ist Politik? © Florian Kiel

Doch das eigene Engagement benötigt Anknüpfungspunkte und die sind schwer zu finden. Dazu zwei Negativ-Beispiele von gestern: 

  • Was Lars Klingbeil gedankenverloren auf seinem Handy macht, wenn 65.000 Menschen um ihn herum politisch sind, wird nur er wissen - siehe oben. Zur Erinnerung: er ist der Generalsekretär der SPD, also der organisatorisch Verantwortliche seiner Partei und sichtlich alleine unterwegs - wo ist die Entourage, wo sind die Flyer, die zeigen, dass die SPD in diesem Augenblick zuhören kann, wo sind die Initiativen die den Schwung des Konzertes in den städtischen Diskurs überführen? Immerhin ist die Oberbürgermeisterin von Chemnitz auch von der SPD. Daran kann es also nicht hapern. Fehlt die Kreativität, fehlt die organisatorische Kompetenz, fehlt das Gespür für die Leute vor Ort, fehlt der nötige Ernst?

  • Zurück am Bahnsteig in Richtung Leipzig: es stehen zwei Grüne am oberen Ende des Bahnsteiges: eine MdB und eine MdL - wo ist deren Unterstützerkreis, wieso bekam ich (der ohne Mitgliedschaft auf den Verteilern der Grünen steht) keine Email, dass die Grünen hinfahren? Die MdB engagiert sich seit Jahren gegen die rechtsradikale Szene. Das ist ihre Kernkompetenz in der Bundestagsfraktion: wo ist das Netzwerk um sie herum, warum hat sie keine Flyer dabei, die aufzeigen wie man sich am besten (gegen diese Szene) engagieren kann?

Diese beiden Beispiele stehe für mich in einer Reihe von Aussagen aus den letzen Tagen, die eines ganz deutlich machen: der Ernst der Lage steht in keinem Verhältnis zum Handeln der Verantwortlichen!

  • Heiko Maas spricht davon, dass die Menschen der Mitte lauter werden sollen. Dabei kann der deutsche Staat noch nicht einmal die Demonstrationsfreiheit und die freie Arbeit der Presse schützen. Wie sollen sich dann BürgerInnen angstfrei engagieren können? Er ist Teil des Bundeskabinetts, wo bleibt dessen Dringlichkeitssitzung? Denn eine Tatsache steht doch felsenfest: die Vermischung der rechten Szene mit Teilen der gesellschaftlichen Mitte lässt sich nicht allein in Sachsen lösen, weil große Teile der Ursachen bundespolitisch sind.

  • Horst Seehofer verspricht Unterstützung der Bundespolizei bei Einsätzen in Sachsen. Das ist Amtshilfe, die fünf Etagen unterhalb der Ministerialebene gängig ist. Ein Innenminister der allein im politischen Showgeschäft tätig ist, ist gefährlich. Denn es bestreitet ja keiner, dass sich in Sachsen die rechtsradikale Szene freier als andernorts bewegen kann. Deshalb wäre es seine Aufgabe (wenn auch nicht seine amtlich zugeordnete Kompetenz), die sächsische Polizei anzuhalten, die eigenen Strukturen zu hinterfragen. Diese Aufgabe benötigt Druck von außen- Woher sollte die hiesige Polizei bzw. die sächsische Landespolitik jetzt den Schwung nehmen sich anders zu hinterfragen, den sie in den letzten Jahren hat vermissen lassen. Dazu ein aktueller Beitrag der taz zu den Sachsen-Gesprächen Michael Kretschmers: „Sind wir uns einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?“ "Jetzt schweigen die meisten hier, und ein Grummeln geht durch die Reihen, und der Mann mit der Glatze nickt etwas zurückhaltend. Eine Person klatscht."

  • Eine Oberbürgermeisterin aus Chemnitz, die am ersten Tag sagt, dass sie erschrocken sei und am zweiten Tag nicht mehr zu hören ist, hat auf ganzer Linie versagt. Denn damit spricht sie ihrer gesamten Verwaltung Handlungs- und Ordnungskompetenz ab, die gerade in dieser Situation gefordert wäre.

Die Frage, die mich aktuell am meisten bewegt ist diese: welche Personen des öffentlichen Lebens haben den Ernst der Lage wirklich erkannt und sind bereit ihre ihnen von der Bürgerschaft verliehenen Kompetenzen auch zu nutzen?

Nachtrag vom 15. November 2018

Und hier ein wirklich guter Artikel über Sachsen bzw. Chemnitz in Wort und Bildern: Zwischen Depeche Mode und Reichsflagge.

Gedanken zum Gemeinsinn KW 36

Politischer Geheimbund - Pflege in Sachsen