Was ist normal?

Heute stellen wir uns die Frage, was denn nun eigentlich normal ist und vor allem, ob wir noch ganz normal sind. Ein Zwiegespräch im Cafe zwischen Florian und Cornelius an einem schönen Sommertag.

Cornelius: In einem 3Sat-Beitrag vom 8. Mai 2015 heißt es: „Der Mensch ist ein Herdentier. Deshalb macht er einfach das, was die anderen auch tun – und hält das für normal. Normal ist also, was wir als Gesellschaft akzeptieren“. Florian, was hältst Du davon?

Florian: Gehen wir davon aus, dass die These stimmt, so lässt sich sagen, dass es sicherlich auch positive Aspekte gibt, ein Herdentier zu sein. Wir können uns an anderen orientieren und haben Vorbilder. Andererseits ist es aber auch sehr gewöhnlich und einfach sich an jemanden anderen zu hängen und das zu tun, was andere für gut befinden.

Cornelius: Zudem stellt sich die Frage, ob der Vergleich nicht hinkt. Nach mehreren Jahrtausenden Kulturgeschichte, sollten wir uns nicht mehr als triebgesteuerte Herdentiere begreifen, sondern als vernünftig handelnde Individuen. Auch wenn wir Instinkte haben und manchmal irrationales Verhalten an den Tag legen. Aber sag Du mal, Florian: bist Du normal?

Florian: Ich glaube, ich bin nicht normal. Gleichwohl ist das ein merkwürdiger Gedanke, der einen verunsichern kann und an den Rand einer Gruppe stellt. Zudem frage ich mich, warum ich etwas Besonderes sein sollte. Nur weil ich andere Gedanken habe oder an anderen Dingen interessiert bin als mein Umfeld.

Cornelius: Bist Du denn wirklich an anderen Dingen interessiert? Immerhin gehst Du jede Woche zum Fußballschauen.

Florian: Ja, was gestern der HSV da abgeliefert hat, war wirklich nicht normal. Eigentlich gehört er in die zweite Liga. Trotzdem ist es ein schöner Aufhänger, da man merkt, wie man in Traditionen gefangen ist. So wie der HSV zur Bundesliga gehört, gehört ganz vieles in der eigenen Persönlichkeit zum Normalen. Und vielleicht sind es nur einige Aspekte, die einen von den anderen unterscheiden, denn natürlich mag auch ich gutes Essen und bin beispielsweise auch ganz normaler Städter. Aber gleichzeitig habe ich mich schon immer für andere Dinge interessiert. Das eine ist Umwelt und das andere die Frage, was wir als Gesellschaft miteinander erreichen wollen.

Cornelius: Und was bedeutet das Interesse an diesen Themen für Dich?

Florian: Vielleicht habe ich zu viel Star Trek gesehen, da ging es immer um eine bessere Welt oder die Würde des Einzelnen. Das hatte etwas Aufrichtiges, unabhängig davon, dass diese System auf Grund seiner undemokratischen Strukturen nicht wünschenswert ist. Mir geht es darum, eine Gesellschaft mehr nach Visionen als nach dem Materiellen zu gestalten. Und das Materielle ist in den letzten 10 bis 15 Jahren stärker in den Vordergrund geraten. Zum Beispiel verstehen wir die EU immer stärker als Markt-, anstatt als Wertegemeinschaft. Und auf den Einzelnen bezogen heißt das, dass wir uns nicht so sehr um das Ökonomische kümmern sollten, sondern auf das konzentrieren, was wir als Personen erreichen wollen. 

Cornelius: Aber das Materielle ist auch nur ein Symptom, um auf der einen Seite unsere Normalität zu signalisieren und auf der anderen Seite unseren Individualismus auszudrücken. Warum gibt es tausende Möglichkeiten ein Auto auszustatten? Natürlich um zu zeigen, dass man dazu gehört und gleichzeitig einzigartig ist.

Florian: Aber warum habe ich den Eindruck, dass wir heute immer mehr ins Normale gepresst werden?

Cornelius: Ist dem so?

Florian: Also entweder fällt es mir stärker auf, da ich mich seit ein paar Jahren damit beschäftige. Oder es gibt wirklich Sogkräfte in der Gesellschaft, die es vorher nicht in dieser Ausprägung gab und uns immer stärker in das Normale hineindrängen.

Cornelius: Also ich empfinde das ganz anders, Nichtnormalsein ist das neue Normalsein. Es ist fast schon gesellschaftlich verpönt gewöhnlich zu erscheinen. Heute müssen wir geradezu zwanghaft unsere Individualität zeigen, während es früher viel anerkannter war einfach mitzuschwimmen.

Florian: Ja, da würde ich Dir recht geben. Das war ein anderer Zeitgeist. Fühlst Du Dich denn normal, Cornelius?

Cornelius: Ich hadere damit. Einerseits fühle ich mich total normal. Ich bin in einer normalen Familie aufgewachsen, in einem normalen Vorort, habe eine normale Ausbildung genossen. Ich habe also immer das Gefühl gehabt, normal zu sein, vielleicht auch, weil ich mich meist in recht homogenen Gruppen bewegt habe. Gleichzeitig habe ich von außen immer wieder gespiegelt bekommen, dass ich andere Gedanken und Einstellungen als mein Umfeld hege. Ein Beispiel: Junggesellenabschiede sind mir ein Rätsel. Ich finde es befremdlich, dass sich dabei viele öffentlich erniedrigen wollen und wohl auch mit der neuen Normalität, der Ehe, hadern. Für mich ist es ein völlig absurder Gedanke, noch ein letztes Mal feiern zu wollen, als ob mein Leben nach der Ehe gelaufen wäre. Ich denk mir immer: Wenn Du nicht heiraten willst, warum tust Du es dann? Hier zeigt sich aber auch sehr schön,  dass viele mit der Normalität hadern. Denn Heiraten ist nach wie vor normal. Und gleichzeitig haben viele Angst davor, zukünftig als Ehe-Kollektiv wahrgenommen zu werden und damit ihren Individualismus zu verlieren.

Florian: In Deinem letzten Artikel hast Du über Elisabeth berichtet, die eine Art Erweckungsmoment hatte, als sie feststellte, dass es ganz okay ist, Realitäten anders als andere wahrzunehmen. Und das stelle ich bei mir auch fest. In politischen Fragen habe ich einfach eine andere Wahrnehmung. Da bin ich nicht normal. Das hat nichts mit meinem Supermarkteinkauf, sondern mit meiner Geisteshaltung zu tun.

Cornelius: Jetzt könnte man aber auch sagen, dass Deine Wahrnehmung völlig normal ist und alle anderen sich ähnlich fühlen. Denn jeder hat Anteile in sich, in denen er wie die anderen ist, und solche, in denen er einen Unterschied merkt.

Florian: Ja, vielleicht sucht sich jeder seine Differenzierung. Der eine in der materiellen Ausstattung, der andere im politischen Denken. Aber genau da zeigt sich meine Wertung, da ich manche Themen für zentraler halte als andere.

Cornelius: Ist es dann Dein Wunsch einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu finden, was normal und was nicht normal ist? Wenn ja, nimmst Du Dir da nicht etwas viel heraus, indem Du die Deutungshoheit über das Normale für Dich beanspruchst?  

Florian:  Nein, mich wundert einfach, dass ich mich anscheinend oftmals außerhalb dessen befinde, was gesellschaftlicher Konsens ist. Ein Beispiel: Bei der WM in Katar gibt es einfach Dinge, die nicht dem entsprechen was ein Fußballfest sein sollte. Da geht es um Sport und um Fairness und gleichzeitig lassen wir uns die Stadien von Gastarbeitern bauen, die wie Sklaven gehalten werden. Und Franz Beckenbauer darf ungestraft sagen, er hätte keine Sklaven gesehen, als er auf Kurzbesuch in Katar war. Bis auf ein paar Journalisten interessiert das keinen. Ich vermisse den öffentlichen Aufschrei. Ich fühle mich aufgefordert, klar Position zu beziehen.

Cornelius: Ja, es scheint kaum Bedürfnisse nach echten politischen Auseinandersetzungen zu geben. Zumindest in Deutschland verfügen wir über Grundfreiheiten und die meisten auch über ein wenig Wohlstand. Es scheint, dass der Großteil sich erst dann einbringen will, wenn diese Pfründe gefährdet sind. Bis dahin führen wir lieber populistische Scheindebatten über eine PKW-Maut für Ausländer und konzentrieren uns ansonsten aufs Privat- und Freizeitleben.

Florian: Das scheint mir auch Zeitgeist zu sein. Denn es passieren ja relevante Dinge, die es anzugehen gilt. Ob es jetzt die NSA-Affäre oder die Einschränkung von Grundrechten durch die zeitweise Aussetzung des Schengen-Abkommens ist. Wir sind zu genügsam geworden. Demokratie muss man sich erhalten, auch im Kleinen. Ich frage mich, wie wir das akzeptieren können und warum wir uns nicht dagegen auflehnen. 

Cornelius: Vielleicht weil das Leben für die Meisten einfach zu bequem ist. Andererseits kann man dem Menschen aber auch nicht vorwerfen, dass er sich gern den schönen Seiten des Lebens hingibt und das Unangenehme, in diesem Fall die politische Auseinandersetzung, erspart.

Florian: Ja, aber oft konzentrieren wir uns auf die materiellen und damit letztlich auch künstlichen Bedürfnisse, die wir mit dem wirklichen Leben verwechseln. Denn wir haben doch die Möglichkeiten, uns eine Umwelt zu schaffen, die lebenswert bleibt. Wir können uns darüber auseinanderzusetzen, was gesellschaftlicher Konsens sein soll. Mein Wunsch wäre es, genau das zu nutzen. Ich glaube, dass uns oftmals noch nicht so ganz bewusst ist, dass wir mit der Orientierung am „Normalen“ gleichzeitig Wertmaßstäbe aufgeben.

Cornelius: Die alten Griechen haben das ja ziemlich getrennt. Dort durfte man erst politisch, also in der Polis aktiv werden, wenn die materiellen Grundbedürfnisse gedeckt waren. Aber führt das wirklich zum guten Leben?

Florian: Die Griechen haben da ja was ganz spannendes gemacht. Sie sagten, ich habe erst die geistige Freiheit Dinge zu entscheiden, die für die Polis gut sind, wenn ich materiell frei bin. Wir verkürzen das heute und schreiben Menschen direkt eine hohe Legitimation zu, die wirtschaftlich erfolgreich sind, obwohl sie Verantwortlichkeit für die Gesellschaft noch gar nicht nachgewiesen haben. Und wir wundern uns dann, dass wir eine Ökonomisierung entwickeln, die uns gesellschaftlich auf einen unheilvollen Pfad führt. Das waren die alten Griechen schlauer. Die beiden Sphären haben unterschiedliche Ausprägungen.

Cornelius: Ich würde sagen, dass das ein Fehlschluss ist. Man kann nicht fern des Ökonomischen über das gute Leben streiten. Denn das gute Leben ist massiv davon abhängig, wer über wie viel Ressourcen verfügt. Deshalb sollten wir das nicht trennen, sondern uns eher darüber Gedanken machen, was die materiellen Grundbedürfnisse des Menschen sind und wie wir ihn in die Lage versetzen, seine eigenen Lebensentwurf verwirklichen zu können.

Florian: Ja, das stimmt. Ziel soll es ja auch nicht sein, das Modell der alten Griechen zu übertragen. Und trotzdem müssen wir uns auf politische Spielregeln einigen, die das Ökonomische wieder eingrenzen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Das ist das, was wir mal als soziale Marktwirtschaft definiert haben – auch wenn wir deren Ideale nie erreicht haben.

Cornelius: Wir brauchen wieder eine Diskussion über Zielkorridore. Und zwar absolut wie relativ. Unter absolut verstehe ich die Fragen nach dem Minimum an Lebensstandard, um allen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Bei der Diskussion um den Mindestlohn hat sich gezeigt, dass das nicht passiert. Es wurde vielmehr diskutiert, wie wir im Vergleich zur Weltwirtschaft dastehen. Und Relativ: Wie viel Ressourcen hat diese Gesellschaft im Kollektiv und was sind legitime Unterschiede?

Florian: Das ist wieder etwas, wo ich mich als Außenstehender fühle, da ich den Eindruck habe, dass wir uns hier als Gesellschaft viel zu wenig darüber streiten.

Cornelius: Aber woher kommt das eigentlich? Neigt der Mensch automatisch dazu, sich auf das Private zu konzentrieren, wenn er keine finanziellen Nöte mehr hat? Muss es also erst weiter wirtschaftlich bergab gehen, bis sich etwas ändert? Oder schaffen wir es, dass es normal wird, sich mit diesen Fragen auseinandersetzten?

Florian: Meines Erachtens geht es in dieser Frage letztlich um das Erschaffen von Wirklichkeiten. Diese sehen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich aus. Der Zeitgeist heute ist das Primat des Ökonomischen, während es beispielweise zu anderen Zeiten um Frieden und Freiheit in ganz Europa ging.

Cornelius: Als Optimist mag ich Deine Position, weil Du damit sagst, dass etwas veränderbar ist. Es gibt zwar Pfadabhängigkeiten, aber es ist möglich Dinge anzugehen.

Florian: Nach dem 11. September beispielsweise stellte sich die Frage, wie auf die Anschläge zu reagieren sei. Es bedurfte nur einer kleinen Gruppe in der US-Regierung, die sich dafür entschieden hat, Kriege zu führen und Freiheiten einzuschränken.

Cornelius: In Norwegen hingegen entschied man sich nach den Breivik-Attentaten für den gegenteiligen Weg und entschloss sich die Freiheit zu verteidigen. 

Florian: Ja, genau. Das zeigt, dass wir etwas verändern können. Und das müssen wir verstehen. Jeder Einzelne von uns kann etwas an den gegebenen Bedingungen verändern.

Cornelius: Und das Spannende ist, dass das mit den richtigen Personen und Umgebungsbedingungen sehr schnell passieren kann. Wie lange haben wir den Atomausstieg diskutiert. Aber dann, als die Randbedingungen stimmten, ging alles plötzlich ganz schnell. Das gesellschaftliche Umdenken war langsam, aber die politische Tat bedurfte dann nur noch eines Auslösers, in diesem Fall Fukushima. Und so ist meine Hoffnung, dass wir große gesellschaftspolitische Reformen viel schneller umsetzen können, als gedacht.

Florian: Dein Wort in Gottes Ohr, lieber Cornelius. Und da hier gerade das Mittagessen aufgefahren wird, wollen wir uns bis zu unserem nächsten Zweigespräch verabschieden.

Eine unbequeme alte Dame

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