Gedanken einer ehemaligen Waldorfschülerin

Titel: Wald und Zivilisation

Titel: Wald und Zivilisation

Bis zur zehnten Klasse lernte unsere Autorin an einer Waldorfschule. Dann wollte sie dort Abitur machen und musste sich in das staatliche Schulsystem einfinden, dass die Waldorfschule für die Oberstufe zu übernehmen verpflichtet war.

„Das ist, um euch auf euer späteres Leben vorzubereiten!“. Wie oft war dieses Argument das Ende einer jeden Diskussion. Wie oft habe ich mich breitschlagen lassen mit dieser Standardantwort von fast einem jeden Lehrer. Bis ich eines Tages begann, meinem Naturell entsprechend, diese Aussage zu hinterfragen. Sicher, wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Sicher, in unserem Leben werden wir immer wieder auf unpersönliche und unrealistische Bewertungsmethoden treffen. Sicher, auch nach der Schule müssen wir stupide Fakten aufzählen können, ohne Zusammenhänge, Verbindungen, Parallelen und Auswirkungen zu kennen. Aber müsste uns als Schülern dann nicht ein Umgang mit eben jenen Dingen beigebracht werden? Müssten wir in dieser Leistungsgesellschaft nicht lernen, auch über die ein oder andere vergleichende Leistungsbilanz hinweg zu sehen, sie uns nicht so zu Herzen zu nehmen? Müssten wir nicht lernen, wie wir uns trotz Notenvergleich in unseren individuellen Werten anerkennen können? Ist nicht erst ein Lernen, in dem Interesse geweckt wird, nicht Fakten aufgezählt werden, sinnvoll?

Waldorf vs. Leistungsgesellschaft?

Ich habe als Mittelstufenschülerin immer meinen Hut davor gezogen, dass die Waldorfschule es schafft, in einem von staatlichen Schulen dominierten Land, ihr Ding durch zu ziehen. Ich habe nie mit dieser Schulwahl gehadert, auch heute nicht, im Gegenteil. Aber die Entscheidung ab der 11. Klasse Noten einzuführen, ohne den Wechsel in dieses menschenunwürdige Bewertungssystem liebevoll und bewusst zu begleiten, stelle ich aus heutiger Sicht stark in Frage. Dass Noten mit einer individuellen Leistung nichts zu tun haben, ist, denke ich, jedem bewusst und ich verstehe auch, dass es staatlich vorgegebene Normen zu erreichen gilt, um einen staatlich anerkannten Abschluss ablegen zu können. Aber ich hatte ein Bild von meiner Schule in mir, in welchem sie den Spagat zwischen eben diesen Normen und der Individualität des einzelnen Schülers überbrückt. In meinem bisherigen Leben habe ich begonnen zu lernen immer zu mir zu stehen. Ich weiß, das ich immer so gut bin, wie ich es gerade sein kann. Ich habe Respekt, Anerkennung und Toleranz gelernt, immer begleitet von Menschen, die Wert darauf legten, mich zu fördern und zu stützen, nie aber mich zu überfordern und zu bewerten. Dafür bin ich dankbar.

Die staatliche Schule machte mich stumpf.

Bis zur 11. Klasse wurde ich niemals nach einem Zahlenwert definiert. Niemals habe ich bis dahin einen so auf mich, auf uns alle ausgeübten Druck erleben müssen. Führt er nicht dazu, dass Viele entmutigt werden? Ich habe nicht erlebt, dass es mich stärker und autonomer für mein späteres Leben machte. Es machte mich stumpf, klein und unsicher. Und mit dieser inneren Haltung fühlte ich mich nicht auf Kommendes vorbereitet. Dass dies die Verantwortung, Aufgabe oder auch Berufung eines Lehrers sein soll ist völlig irre geführt durch ein System, welches sich selbst überlebt hat. Ich stimme voll mit der Ansicht überein, dass die Aufgaben eines Pädagogen darin bestehen, den Schüler an seinem jeweiligen Standpunkt abzuholen, ihn nur zu begleiten, die ureigene innere Motivation und Neugierde zu wecken und liebevoll zu führen und nicht, ihn von oben herab mit Wissen voll zu stopfen, da der Lehrplan auch ein Zeitplan beinhaltet. Die Entwicklung des kreativen Individuums sollte im Vordergrund stehen und nicht die Zucht zu einem einheitlich angepassten Staatsbürger. Die Verantwortung ist, eben jenen werdenden Erwachsenen zu helfen, das eigene Selbstbewusstsein, dass uns immer halten kann, zu entwickeln. In der Oberstufe sah ich meine Lehrer den größten Teil eines Wochentages. Und auch, wenn ich begann meinen eigenen Weg zu gehen, so werden in mir immer weiter die Vorbilder leben, die sie mir damals gegeben haben. Was ist das, wenn nicht Verantwortung? Ich frage mich, ob die von mir erlebte Form der Vermittlung der Lerninhalte noch etwas mit dem Grundgedanken der Waldorfpädagogik zu tun hatte. Aber: „ Auf staatlichen Schulen ist das auch so!“ Das bin ich nicht bereit zu akzeptieren. Nicht umsonst bin ich eben nicht auf einer staatlichen Schule gewesen.

Nach einer Prüfung habe ich alles wieder vergessen.

Ich habe viel mit Trotz, Rebellion, Widerspruch und Verweigerung auf die Unterrichtsinhalte reagiert, was mich viel Kraft gekostet hat und auch nicht der richtige Weg war, ich weiß. Dann habe ich probiert, mir nur die Dinge anzueignen, die ich für sinnvoll erachtete und den Rest über mich ergehen zu lassen und stoisch auswendig zu lernen, um sie nach dem Test wieder zu vergessen. Nur die Unterrichtsinhalte, die Interesse bei mir weckten (und ich halte mich für neugierig genug, für fast alles Interesse aufbringen zu können), blieben hängen, konnten von mir miteinander verknüpft und weiter verarbeitet werden um ein großes Ganzes zu bilden. So kann ich mich z.B. an Unterrichtsinhalte aus den allerersten Schuljahren erinnern, die uns in spielerischer Weise vermittelt wurden und sie auf heutige Lerninhalte beziehen. Das zeigt mir, dass die frontalen Lehrmethoden, die ich später erlebte, zu hinterfragen sind, denn sie hatten und haben fast keine Nachwirkungen auf mich. Mir geht es um das Verstehen an sich, um die Welt, das Leben. Ich will urteilsfähig werden.

Die Schule sollte mit der Zeit mitgehen.

In einem Zeitalter, indem sich alles rasend schnell entwickelt, kann gar nicht alles über Jahrhunderte erkannte und erforschte Wissen in 12 oder 13 Jahren vermittelt werden. Vielleicht sollte sich die Aufgabe einer Schule wandeln und mit der Zeit mitgehen. Ganz sicher sollte die Aufgabe einer Schule langsam darin bestehen, ihre Schüler auf das spätere Leben vorzubereiten. Aber nicht, durch Benotung auswendig gelernter Fakten. Ihre wirkliche Aufgabe ist das Können zu vermitteln, durch die Fähigkeit Zusammenhänge, Verbindungen, Parallelen und Auswirkungen zu erkennen, selber seinen Weg, unser aller Weg, zu finden und sich auf Neues spielend leicht und kreativ einzustellen. Denn dann können wir Kinder die Zukunft bauen.

 

Bildquelle: © Florian Kiel

Der Polizist - kein gesundes Feindbild

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